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Buchmesse Frankfurt - RollingStock war dabei und macht sich seine Gedanken

Ich kann es schon von weitem erkennen. Sie wird nicht schauen, obwohl ihre Augen geöffnet sind. Sie nimmt wahr, doch die winzigen Informationspakete, die die Realtität in fragmentierter und verschlüsselter Form enthalten, bleiben auf dem Weg zwischen Auge und Gehirn stecken. Es ist mir ein Rätsel, dieser Datenverlust auf einer neuronalen Bahn, die nur wenige Zentimeter lang ist. Wie kann hier etwas verloren gehen? Wenn wir mit den Füßen sehen würden, hätte ich mehr Verständnis. Zwischen Hamburg und München kann ein Intercity schon mal verloren gehen aber zwischen Essen und Bochum? Das ist nicht akzeptabel.


Ich glaube vielmehr, es ist eine Art Klammer im Gehirn. Sie quetscht die Datenautobahn kurz hinter dem Auge ab und provoziert einen Datenstau, der bis zu den Augen zurückreicht. Ein Datenstau, der sich in ihrem Blick widerspiegelt. Ein abweisender Blick, leicht mürrisch, in sich gekehrt, die Augenbrauen nach unten gezogen. Nein, keine weitgeöffneten, aufnahmewilligen Augen, eher zu einem Schlitz verformt, in vollem Bewusstsein, dass jede weitere Aufnahme von optischen Eindrücken den Datenstau noch mehr zum Anschwellen bringt.


So viele Klammern eilen an mir vorbei. Dabei könnte der Anblick meines Standes für einen kurzen freudvollen Moment sorgen. Mit viel Herzblut geplant, vorbereitet und aufgebaut, mit einem Quäntchen Individualität und einer Prise Fantasie ausgestattet. Wenn nur die Klammern nicht wären.


Ich muss mich zusammenreißen. Ich muss endlich akzeptieren, dass Klammern in unserer Welt unverzichtbar sind. Sie schützen die Gehirne vor Überlastung. Gehirne, die Bilanzen durchgehen, Strategien abwägen, Verkaufsgespräche simulieren, Werbe-kampagnen schmieden, schier implodieren, erdrückt von der Fülle der Geschäfts-potentiale, die diese Messe offeriert. Wie sollen da noch optische Eindrücke verarbeitet werden, die man auf diesem Event nicht erwartet? Das ist nicht mehr leistbar, und es ist nebensächlich. Deswegen die Klammern.


Dort kommt einer im Stechschritt, völlig entrückt. Der hat keine Klammer mehr. Der hat Nägel mit Köpfen gemacht, mit einem Schwertstreich durchgeschlagen das Band, welches Auge und Gehirn verknüpft. Er war des ständigen Klammerns überdrüssig. Er wird nie mehr mit dem Herzen sehen.


Da hinten ein Älterer. Er schlendert und bringt dabei den Fluss der Geklammerten punktuell ins Stocken. Das könnte ein Kandidat sein. Ich habe einen Blick dafür entwickelt, ich bin mir fast sicher. Seine Augen sind wach und saugen die Eindrücke auf, keine Spur von Datenstau, ein Gehirn, das das Hier und Jetzt verarbeitet. Er blickt in meine Richtung und verweilt und lächelt.




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